Verkürzte Landschaft
nach Georg Paulmichl
Dort, wo er lebt, sagt Georg Paulmichl, in der Werkstatt, „sind alles Behinderte. Ich bin nicht behindert. Ich kann reden.“
Georg Paulmichl, ein Dichter, nach herkömmlichen Sprachbegriffen geistig behindert, kombiniert sprachliche Elemente ohne weiteres miteinander, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Er liefert nicht konforme und deshalb ausgegrenzte Seh-und Denkweisen sowie schwerverdauliche Sprachbrocken, die dem Zuschauer in den Ohren stecken bleiben.
Mit sparsamsten Mitteln – einige Zollstöcke, die sich im Handumdrehen zum Bilderrahmen, zur Zeitung, zum Fernsehschirm oder zur menschlichen Figur zurechtbiegen lassen, und drei Stühlen – wird in einer Abfolge unterhaltsamer, berührender und abgründiger Texte ein Charakterbild eines Menschen in seiner eigenen Welt präsent, das zupackend und direkt, in seinen Zwischentönen ironisch und witzig ist.
Zwei Stühle stehen sich gegen gegenüber. Auf dem einen sitzt ein großer Zollstock – der Lehrer. Auf dem andren ein winzig kleiner – der Schüler. Daneben steht Tilo Nest und rezitiert aus Paulmichls „Lehrer“:
Der Lehrerberuf ist ein unheimlicher Job./ Die Schüler werden geprüft, geübt, beaufsichtigt und manchmal auserkoren./ Um Lehrer zu werden, muss man zuerst die Fahrschule machen, dann die Stirn runzeln./ Manche Schüler haben eine fürchterliche Angst, es zittern ihnen nur so die Knie./ Die Lehrer wissen alles, sie sind unglaublich und unfehlbar.
Manche Schüler singen die erste Stimme, manche die zweite und manche die fünfte.
Die Lehrerinnen haben eine höfliche Niedertracht und radieren die Hefte aus, dass sie blitz und blank sind./ Ein sauberes Hegt ist eine Erfüllung für den Geist./ Die Lehrer sind von den Landeshauptmännern berufen, aus den Schülern Menschen zu machen.
Der Lehrer lenkt die Gedanken im Kopf herum, dass es nur so rauscht./ Manche Lehrer sind Wüstlinge und Knallköpfe./ Jesus hat gesagt, du sollst kein falsches Zeugnis machen./ Die Schüler müssen aufspringen und guten Morgen durch die Klasse heulen.
Bei den Ohren geht’s hinein, bei den Ohren geht’s hinaus, das ist der Lebenslauf.
Der Schauspieler Tilo Nest intoniert’s verslos, auf den Inhalt bedacht, auf die Überraschung, die geölt aus den Sätzen saust – Literarische Stilblüten? Spitze Stilblüten! Komödiantisch spitz. Das macht sie theaterverdächtig. Da prasselt aus 21 Geschichten Unverhofftes und Wahrheit. Die Literatur eine Psychiatrisierten ist zum Lachen.
Eine 50-minütige Entdeckung für das Theater. Paulmichls grammatisches Variete ist ein ansteckendes Erholen vom allgemeinen Gebrauch der Sprache. Nach dem Theater paulmichlen wir.
Die Idee, die Gedichte des Georg Paulmichl auf die Bühne zu bringen. hat sich als echte Entdeckung erwiesen.
Verkürzte Landschaft weitet den Blick: in Abgründe hinein.
Hervorragend: Verkürzte Landschaft bietet die seltene Gelegenheit, die Welt für eine Stunde neu und anders zu sehen. Eine überaus sehenswerte Aufführung.
1991
mit
Tilo Nest
Regie
Helena Waldmann
Bühne
Dietmar Teßmann
Fotos
Jochen Manz
Aufführungsdauer
50 min
Premiere
26. März 1991
Schauspielhaus Bochum im Theater Unten